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Heft 5.2.2.1917]
Frank: Die Bedeutung d. physikal. Erkenntnistheorie Machs f. d. Geistesleben usw. 69

und die Atome aus der Physik ganz verbannen wollen. Ich glaube, daß man den Kern der Machschen Lehre von dieser mehr historisch und individuell bedingten Abneigung gegen die Atomistik ganz loslösen kann. [[underline]]Die Atome sind eben Hilfsbegriffe wie andere, [[/underline]] die in einem begrenzten Kreise mit Vorteil angewendet werden können. [[underline]] Als erkenntnistheoretische Grundlage eignen sie sich nicht.[[/underline]] Hat man sich einmal diese Ansicht gebildet, so ist man in der Anwendung der Atome, wo sie zulässig ist, um so freier. Ich glaube, daß gegen den so herausgeschälten Kern auch Planck nicht mehr so viel einwenden würde. Es ist dann auch gar nicht mehr so sonderbar, wenn man die Atome, [[underline]]wenn auch nicht deren Realität,[[/underline]] für eine Forderung der Ökonomie erklärt. Sie können das einfachste Mittel zur Darstellung der physikalischen Gesetze sein, ohne sich darum zur [[underline]]erkenntnistheoretischen Grundlegung [[/underline]] zu eignen.
  Im allgemeinen wird also der Phänomenalismus den Physiker in seinem Fach weder besonders fördern noch hindern. So hat Maxwell, der wohl rein positivistisch dachte, die grundlegenden Arbeiten über die Molekulartheorie der Gase geschrieben. Eine Gefahr wird die phänomenalistische Auffassung nur dort, wo die Forderung der Ökonomie nicht mit gleicher Intensität erfaßt wird. Das geschichtlich bemerkenswerteste Beispiel dafür ist wohl Goethes Farbenlehre. Man darf allerdings, wenn man eine so starke Individualität beurteilen will, nicht vergessen, daß, wie A. Stöhr 1) sehr richtig hervorhebt, die Forderung der Ökonomie je nach der Individualität etwas ganz anderes bedeutet. Für den einen bedeutet sie ein Minimum an Hypothesen, für den anderen etwa ein Minimum an Energiearten. Das erstere gilt für den extremen Phänomenalisten Goethe, das letztere für den reinen Mechanisten. Es ist vielleicht noch lehrreich, als Gegenstück hierzu an einen theoretischen Physiker zu erinnern, der als unmittelbarer Schüler Machs es versucht hat, wirklich ein Gebäude der Physik und Chemie zu errichten, in dem keinerlei hypothetische Korpuskeln, seien es Atome oder Elektronen, auftreten, und das [[underline]] doch alle bis heute bekannten Phänomene umfaßt. [[/underline]] Man kann nicht leugnen, daß Gustav Jaumann in zahlreichen Arbeiten 2) mit starker konstruktiver Kraft diese Aufgabe unternommen hat. Ich glaube aber nicht, daß das Ergebnis wirklich im Geiste der Machschen Lehre ausgefallen ist. Es entspricht wohl der äußerlichen Forderung, [[underline]] daß alle Atomistik wegbleiben soll, [[/underline]] aber der Forderung der Ökonomie entspricht es kaum. Es wird eine große Zahl von Konstanten verwendet, über welche die Theorie gar nichts aus-
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 1) A. Stöhr, Philosophie der unbelebten Materie, Leipzig, 1907, S. 16 ff.
 2) G. Jaumann, Geschlossenes System physikalischer und chemischer Differentialgesetze, Sitzungsberichte der Wiener Akademie der Wissenschaften, math.-naturwiss. Klasse, Abt. IIa (1911), und viele andere Arbeiten in denselben Berichten.

 Nw. 1917
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sagt. Das Jaumannsche System ermöglicht uns also nur in sehr eingeschränktem Maße, die Phänomene aus einer kleinen Zahl von Hypothesen auch dem numerischen Werte nach abzuleiten. Für die Unabhängigkeit der physikalischen Forschung von der erkenntnistheoretischen Grundlage kann man wohl auch noch anführen, daß der energischste Versuch zur Widerlegung der korpuskularen Theorie der Elektrizität, der von F. Ehrenhaft, keinerlei Zusammenhang mit philosophischen Lehrmeinungen irgendwelcher Art besitzt.
  Ich glaube nun, meine Ansicht über die Bedeutung Machs einigermaßen klar gemacht zu haben. Um aber seine Stellung im Geistesleben unserer Zeit völlig zu übersehen, müssen wir einen noch mehr abseits gelegenen Standpunkt aufsuchen, um einen besseren Überblick zu gewinnen.
  Wenn wir das bedeutendste Werk Machs, seine Mechanik, lesen, so werden wir finden, daß er uns in keinem Abschnitt einen so tiefen Einblick in seine innersten Gedanken und geistigen Neigungen tun läßt, wie in dem wundervollen Kapitel über "theologische, animistische und mystische Gesichtspunkte in der Mechanik". Es weht ein Wind von erfrischender Kühle aus diesen Sätzen. Was sonst meist mit leidenschaftlichem Poltern, oft mit leiser Ankündigung einer kleinen Ketzerverbrennung für den Gegner, behandelt wird, sehen wir hier in echt wissenschaftlichem Geiste durchgesprochen. Und doch zittert durch das Ganze ein Unterton von verhaltener Erregung. Es tritt einem jener von der [[underline]] eigenen Nüchternheit trunkene Zustand [[/underline]] entgegen, den man dem Zeitalter der Aufklärung nachgesagt hat. Und Mach erblickt auch wirklich in diesem Zeitalter seine geistige Heimat. In dem genannten Kapitel heißt es: "Erst in der Literatur des 18. Jahrhunderts scheint die Aufklärung einen breiteren Boden zu gewinnen. Humanistische, philosophische, historische und Naturwissenschaften berühren sich da und ermutigen sich gegenseitig zu freierem Denken. Jeder, der diesen Aufschwung und diese Befreiung auch nur zum Teil durch die Literatur miterlebt hat, wird lebenslänglich ein elegisches Heimweh empfinden nach dem 18. Jahrhundert."
  Die persönlichen Bekannten Machs wissen auch, daß er ein eifriger Bewunderer und Leser der Schriften Voltaires gewesen ist und von einem seiner ehemaligen Assistenten 1) wurde mir mitgeteilt, daß Mach die Angriffe Lessings gegen Voltaire auf das entschiedenste mißbilligt hat. Es ist ja auch bekannt, daß der Mann, von dem Mach erzählt, daß er lange Zeit der einzige war, mit dem er, ohne Anstoß zu erregen, von seinen physikalisch-erkenntnistheoretischen Ansichten sprechen konnte, daß Josef Popper ein ganzes Buch geschrieben hat, das der Verteidigung, ja der Verherrlichung Voltaires gewidmet ist.
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 1) Prof. Dr. Georg Pick.
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