Viewing page 365 of 620

This transcription has been completed. Contact us with corrections.

Von der Farbengebung insbesondere. 89

Also müssen die wesentlichen Theile ihre Farbe in dem Maaße hervorstechen, daß das Auge zuerst darauf geleitet werde.  Aber er muß dabei nicht stehen bleiben; darinn müssen die andern Theile in der Farbe nicht so schnell abfallen, daß das Auge gleichsam einen Sprung darauf zu thun hätte, sondern allmählig durch sanfte Abänderungen in der Erfindung, wo das Mittel zum Uebergang von der einen zur andern noch empfindbar ist.

Man kann in einer Masse sehr widerstreitende Farben anbringen; aber sie müssen nicht neben einander stehen; sondern nach dem Grade des Dissonirens derselben, müssen mehr oder weniger Mittelfarben, als Verbindungen darzwischen gesetzt seyn.  Der Maler muß alle diejenigen Lokalfarben, welche von sehr ungleichartiger Wirkung sind, durch alle sich dazwischen schickende Farben zu verbinden wissen, ohne die Harmonie zu verletzen.  Hierbei kömmt das meiste auf die Feinheit der Empfindung des Künstlers selbst an.  Sein Auge muß so zart seyn, daß es auch von dem geringsten Mißlaut der Farben beleidigt wird.

Von Licht und Schatten hängt ebenfalls ein großer Theil der Harmonie ab; denn schon dadurch allein kann ein Gemälde Harmonie bekommen.  Die höchste Einheit der Masse, oder die höchste Harmonie, findet sich nur auf der Kugel, die von einem einzigen Lichte beleuchtet wird.  Das höchste Licht fällt auf einen Punkt, und von da aus, als dem Mittelpunkt, nimmt es allmählig durch völlig zusammenhangende Grade bis zum stärksten Schatten ab.  Dieses ist das Muster, an dem sich der Maler halten muß, um die vollkommene Harmonie in Licht und Schatten zu erreichen.

Es müssen daher alle Farben zur Ausbildung des Ganzen so angebracht werden, daß sich immer eine in der andern unvermerkt verliere.  Das höchste Licht muß sich nämlich in der lichten Fläche, die lichte Fläche in dem Halbschatten, der Halbschatten in dem Hauptschatten u. s. w. ganz angenehm verlieren, so, daß sich keine Farbe von der andern scharf abschneidet, sondern alle zusammen von einem Stücke zu seyn scheinen; dieses ist auch von allen äußern Umrissen zu verstehen.

Sie müssen nämlich mit den anliegenden, oder daran stossenden Dingen, auch wohl vereinigt werden, wenn letztere gleich von einer ganz andern Farbe seyn sollten.  In diesem Falle nennt man ein Gemälde zärtlich oder weiblich.  Im Gegentheile aber, nämlich wenn die Lichter allzunahe an den Schatten liegen, und die Umrisse nicht genug vereinigt sind, so sagt man: ein Gemälde von dieser Art sey trocken oder hart.

Der Maler muß aber eben so gut wissen die Harmonie zu unterbrechen, denn dadurch erhält er die vollkommene Haltung.  Was sich nothwendig von dem Grunde ablö-
 
II. Band.         M            sen