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Meinungen

Die große Herausforderung

Lösungsvorschläge für eine lebenswerte Zukunft macht John V. Hormann, derzeit bei der Schweisfurth-Stiftung, München

Unsere bisherigen Grundannahmen über Wirtschaft und Gesellschaft ermöglichen keine lebensfähige Zukunft. Ökonomische Logik und Profitorientierung bestimmen unsere Entscheidungen, die uns und künftige Generationen in ihrer Existenz beeinflussen. Der Autor stellt dieses traditionelle Denken in Frage und entwirft die Vision von einer lebenswerten Zukunft. Darin kommt der Arbeit ein neuer Stellenwert zu.

Irgendwann im Leben stellt sich jeder Mensch so essentielle Fragen wie: Wer bin ich? Welche Beziehung habe ich zu den anderen? Was ist das Universum, und welche Rolle spiele ich darin? Gibt es eine letzte Autorität? - Und jeder erhält von seiner Gesellschaft Antworten, die durch die jeweilige Weltsicht geprägt sind. Unsere Gesellschaft hat, allgemein gesprochen, zwei konkurrierende Weltsichten: eine religiöse und geisteswissenschaftliche, die menschliches Bewußtsein und Werte hervorhebt, und eine naturwissenschaftliche, die ihre Aufmerksamkeit auf die sichtbare, physische Welt richtet und von daher versucht, die Wirklichkeit zu erklären. Letztere hat unser modernes Denken durchdrungen und beeinflußt das Leben der Menschen in den Industriegesellschaften. 

Im Zeitalter der Naturwissenschaft ist die Natur dem Kollaps nahe. Die globalen Probleme scheinen innerhalb des gegenwärtigen Wirtschaftssystems nicht mehr lösbar. Jedoch immer mehr Menschen erkennen, daß unsere Gesellschaft eine neue Richtung finden muß, um in eine lebenswerte Zukunft zu steuern. Der wachsende Druck wird in den nächsten Jahren zu gewaltigen Umstrukturierungen führen. Wir können ihn nicht mehr aufhalten, aber noch können wir selbst bestimmen, wie schmerzhaft dieser Übergang in ein erweitertes Denken sein wird. 

Die neue Sicht der Wirklichkeit wird nicht eine weitere konkurrierende Weltsicht sein, sondern sie versöhnt die naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlich-religiösen Bilder. Diese Wende nennen wir Transformation oder Wandel. 

Wandel ist keine Verhaltensänderung, deshalb wird seine Tragweite in der Regel unterschätzt. Wandel ist eine Bewußtseinserweiterung, eine erweiterte Sicht der Wirklichkeit. Er löst bei den Menschen neue Werthaltungen aus, die in allen Handlungen zum Ausdruck kommen und mit denen sie sich an neue Gegebenheiten anpassen. Grundlegende Veränderungen geschehen typischerweise dann, wenn Bewußtsein und Handlung in Situationen zusammentreffen, die die Menschen innerlich bewegen. 

Die Wende vom Mittelalter zur Moderne fand nicht nur durch die Verbreitung der neuen Erkenntnisse von Kopernikus, Galilei und anderen statt, sondern auch deshalb, weil sie von Dogmatikern bekämpft wurden. Ihre Gegenkraft erregte zumindest ebensoviel Aufmerksamkeit. 

Es war ein ungeordneter Prozeß, in den zahllose Menschen und Gruppen einbezogen waren, die sich von überholten Denkmustern befreien wollten und nach einer erweiterten Bewußtheit suchten, und solchen, die alle Macht einsetzten, das neue Denken zu verhindern. Vehemente Auseinandersetzungen prägten ihren Weg. 

Die erweiterte Weltsicht rief neue soziale Verhaltensweisen und institutionelle Veränderungen hervor, die sich heute noch auswirken. 

Wandel findet statt, wenn Menschen Herausforderungen annehmen und Probleme lösen wollen. In einem Wechselspiel von erweiterter Bewußtheit und neuen Erfahrungen transformieren sie ihre Wahrnehmungs-, Denk- und Sehweisen. Dieser Prozeß kann bewußt gefördert werden, wenn innere Zusammenhänge verstanden und, darauf aufbauend, Möglichkeiten geschaffen werden, Menschen, Gruppen und Institutionen zu unterstützen, die die angestrebten Ideale vertreten. 

Eine Gesellschaft sollte als ein organisches Ganzes betrachtet werden, mit den Selbstheilungskräften eines lebenden Systems. Wie ein menschlicher Körper, der sich nach einem Schlaganfall neue Nervenbahnen sucht, oder wie Menschen, die trotz schlechter Kindheitserfahrungen zu erfolgreichen und erfüllten Erwachsenen werden. 

[[left margin]] Illustrationen: Werke von Mel Casas [[/left margin]]

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