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Ernst Mach. 

Von Hans Krupp (im Felde).

Vor wenigen Tagen erfuhren wir von dem Hinscheiden dieses Großen der Wissenschaft auf seinem Landsitz in Haar bei München - seinem letzten Willen gemäß erst nach seiner Feuerbestattung. Im Tode noch diese Bescheidung des "Ich", die auch seiner ganzen Weltanschauung den Grundcharakter gab - entgegen der Stimmung einer Epoche, die gerade in diesem Punkt eine machtvolle Entwicklung darstellt, von Kant und dem romantischen Idealismus über Nietzsche, den Gipfel, bis in die Gegenwart hinein.
Ernst Mach, geboren 1838 zu Turas in Mähren, als Kind ideal veranlagter und weltfremder Menschen - der Vater dem Mammon abgeneigt, philosophisch und tierpsychologisch höchst interessiert, von pädagogischer Begabung und einer großen Schwäche für die Landwirtschaft, der erste Pionier der Seidenzucht in Europa, die Mutter eine, wenn auch nicht ausgebildete, Künstlernatur - kam bald nach Wien, wo er seine gymnasiale Ausbildung zur Zeit der März-Revolutionen erhielt. Schon als 15jähriger wurde er von seinem Lehrer F.X. Wesselen mit den Ideengängen Lamarcks vertraut gemacht, und zur selben Zeit etwa brachten ihm Kants "Prolegomena" gewaltige, unauslöschliche Eindrücke, so daß das 1859 erscheinende Hauptwerk Darwins bei ihm fruchtbarsten Boden fand. Auf der Wiener Universität studierte er Naturwissenschaften und habilitierte sich dort 1861 für Physik. 1864 erhielt er eine Professur in Graz, 1867 wurde er nach Prag berufen, wo er 1879/80 als Rektor gegen die Tschechen kraftvoll für das Deutschtum eintrat. 1895 kam er auf den Lehrstuhl für induktive Philosophie nach Wien und wirkte dort bis 1901, wo er infolge einer 1898 erlittenen Apoplexie ohne Bewußtseinslähmung emeritiert wurde. Er nahm darauf seinen Wohnsitz in Haar, um dort, mit hauptsächlich psychologischen Studien beschäftigt, deren Niederschrift er nur unter größter Mühwaltung mit der Schreibmaschine bewerkstelligte, seinen Lebensabend zu verbringen. 
Mit der überaus scharfen Pflugschar seines tiefen Geistes zog er unvergängliche Spuren in das sehr weite wissenschaftliche Feld der Physik, Psychologie und Philosophie. Das ihm vom Vater vererbte pädagogische Talent in Verbindung mit einem schon in früher Zeit sehr großen Unbehagen übr die [[underlined]] metaphysische Durchsetzung physikalischer Begriffe und Theorien [[/underlined]] brachte ihn bald darauf, die historische Entwicklung der einzelnen physikalischen Prinzipien kritisch eingehend zu studieren, die von ihren Entdeckern gemachten Voraussetzungen auf ihre logische Beschaffenheit und ihre Beziehungen zum kantischen Apriorismus und Absolutismus zu prüfen. Dem hiermit in Verbindung stehenden, auch heute noch wirksamen Zuge der Zeit, eine physikalische Erscheinung für zureichend erklärt zu halten dann, wenn sie auf mechanische Gesetze und Prinzipien zurückgeführt sei, vermochte er [[underlined]] nicht [[/underlined]] zuzustimmen. [[underlined]] Der Relativität [[/underlined]] größte Wertigkeit zuzuerkennen, sah er sich zwingend genötigt und hat so sein gut gemessenes Teil dazu beigetragen, moderner Theorienbildung die Wege zu ebnen. Als allmählich immer schärfer umrissenes Ziel stellte sich ihm eine vergleichende Physik mit rein phänomenologischer Terminologie dar, die jeglichem physikalischen Gebiet unter dem Hauptgesichtspunkt der Erfahrung gleiche Gerechtigkeit widerfahren ließe. Als bekannteste Veröffentlichungen seien hier neben einer großen Zahl von Abhandlungen experimentell-physikalischer Art genannt: "Zur Geschichte des Arbeitsbegriffs", "Erhaltung der Arbeit", "Die Mechanik in ihrer Entwicklung", "Prinzipien der Wärmelehre", ferner mehrere Lehrbücher und Leitfäden.
Schon in seinen ersten Arbeiten befaßte sich Mach mit dem Grenzgebiet zwischen Physik und Psychologie ("Über die Änderung des Tones und der Farbe durch Bewegung"). Das rein psychologische Gebiet betrat er mit Studien über die Theorie des Gehörorgans, weiterhin über die Tonempfindungen. Ihnen zur Seite traten eingehende Arbeiten über die Bewegungsempfindungen und den Gleichgewichtssinn, den er in den Bogengangapparat des Ohres verlegt. Hierbei löst nur die Beschleunigung, nicht die gleichförmige Bewegung Empfindungen aus: Drehschwindel und Augenschwindel werden hier zum eingehenden Nachweis herangezogen. Von da führte ihn die Untersuchung des Gesichtssinns, ausgehend von den Gestaltauffassungen unter weitgreifender Berücksichtigung der optischen Täuschungen, wozu er eine große Zahl neuer Phänomene und Apparate beisteuerte, zu hochinteressanten Beiträgen zur Raumpsychologie. Die hier und anderswo öfter behandelten optischen, akustischen und Bewegungsnachbilder lieferten Bausteine zur Mneme-Lehre Rich. Semons. Im Zusammenhang mit den Arbeiten über den Bogenapparat stehen Machs Theorien der Zeitwahrnehmung, die jedoch einer heutigen Kritik nicht mehr standhalten dürften. Die Bilanz seiner psychologischen Erkenntnisse, die auch gleichzeitig zu seinen rein philosophischen Anschauungen überleiten, obgleich er nie auf den Beifall der Fachphilosophen rechnete - was leider lange auf Gegenseitigkeit beruhte - , zieht Mach in seinem bekanntesten Buche: "Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen". (1885; 1911 in 6. Aufl.) Anfangs nur von Fachgenossen beachtet, von Philosophen agbelehnt, fand es bald durch Hermann Bahr u.a. Eingang in weitere Kreise, gründete Mach gar eine Gemeinde. Die ihn immer lebhaft beschäftigenden historisch-kritischen Studien in Verbindung mit seinen psychologischen Interessen fanden ihren Niederschlag in einer Wiener Vorlesung, aus der als Beitrag zur Psychologie der Forschung das ebenfalls weitere Kreise interessierende Werk: "Erkenntnis und Irrtum" hervorging.
Machs Philosophie - oder, wie er selbst seine hierher gehörigen Anschauungen genannt wissen wollte: "vorläufige, unvollkommene Versuche einer naturwissenschaftlichen Methodologie und Erkenntnispsychologie" - fußt in ihren großen Zügen auf den Lehren Darwins. Bei der Analyse der sich ihm darbietenden Innenwelt und Umwelt gelangt er zu letzten Elementen: den "Empfindungen", die jedoch scharf abzutrennen sind von dem, was die Psychologie unter dem Empfindungsbegriff faßt. Sie sind "funktional" zu nehmen, was den meisten Kritikern Machs entging. Und als "Funktionalismus" in fast mathematischem Sinne könnte man Mach "Richtung" kennzeichnen. Auch das "Ich" mit allem Zubehör löst sich ihm so vollkommen auf in "Empfindungen", um so den Zwiespalt zwischen "Erscheinung" und "Ding an sich" zu überbrücken. Methodisch wird diese Funktionalität durchgeführt für das Gesamtgebiet der Wissenschaften, wobei die Probleme beispielsweise von "Schein und Wirklichkeit", "Substanz", "Werden", "Kausalität", "Raum und Zeit" eine nicht so ohne weiteres abzutuende Lösung finden. Ganz im Geiste Darwins stehen seine methodologischen Ansichten: das "Ökonomieprinzip" als wesenhaft für die Logik (sogar für ihre feinste Bildung, die Mathematik), seine "genetische" Psychologie des Denkens als Anpassungserscheinung; gar Wahrheit und Irrtum werden bei Mach gleich wirksam für den Fortschritt und sind nur nach ihrer Fruchtbarkeit zu werten. Und die Entwicklung der Wissenschaften hat ihm darin oft recht gegeben.
Ein großer, fruchtbarer Forscher - die Zahl seiner Arbeiten übersteigt anderthalb hundert- , ein eigenartiger stiller Mensch ist in Mach dahingegangen. Hier seine Abschiedsworte: "Bei seinem Scheiden aus dem Leben grüßt Professor Ernst Mach alle, die sich seiner erinnern, und bittet um ein freundliches, heiteres Andenken." Es ist ihm sicher!
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Als Monographie über das Gesamtwerk Ernst Machs nenne ich: Dr. Hans Henning: Ernst Mach als Philosoph, Physiker und Psycholog. Verlag von Joh. Amb. Barth, Leipzig 1915; und als Einführung in die "Analyse der Empfindungen": Dr. Theodor Beer: Die Weltanschauung eines modernen Naturforschers. Verlag von Karl Reißner, Dresden und Leipzig, 1903.


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