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72  Went: Periodische Erscheinungen beim Blühen tropischer Gewächse.  [Die Naturwissenschaften

angewiesen zu sein: eine wahre Welt - sie mag sein, wie sie will - jedenfalls haben wir kein Organ der Erkenntnis für sie. Hier dürfte man schon fragen: mit welchem Organ der Erkenntnis setzt man auch diesen Gegensatz nur an?.... Damit, daß eine Welt, die unseren Organen zugänglich ist, auch als abhängig von diesen Organen verstanden wird, damit, daß wir eine Welt als subjektiv bedingt verstehen, damit ist nicht ausgedrückt, daß eine objektive  Welt überhaupt möglich ist. Wer wehrt uns zu denken, daß die Subjektivität real, essentiell ist? Das 'An sich' ist sogar eine widersinnige Konzeption: eine  'Beschaffenheit an sich' ist Unsinn: wir haben den Begriff 'Sein', 'Ding' immer nur als Relationsbegriff.... Das Schlimme ist, daß mit dem alten Gegensatz 'scheinbar' und 'wahr' sich das korrelative Werturteil fortgepflanzt hat: 'geringer an Wert' und 'absolut wertvoll'..."
  Und an einer anderen Stelle sagt Nietzsche 1): "Daß die Dinge eine Beschaffenheit an sich haben, ganz abgesehen von der Interpretation und Subjektivität, ist eine ganz müßige Hypothese: es würde voraussetzen, daß das Interpretieren und Subjektsein nicht wesentlich sei, daß ein Ding aus allen Relationen losgelöst noch Ding sei."
  Am prägnantesten spricht Nietzsche 2) wohl die positivistische Weltauffassung in dem folgenden "zur Psychologie der Metaphysik" benannten Aphorismus aus, wo mit schneidender Schärfe die Anwendung sehr häufig mißbrauchter Begriffe bekämpft wird: "Diese Welt ist scheinbar: folglich gibt es eine wahre Welt; - diese Welt ist bedingt: folglich gibt es eine unbedingte Welt; - diese Welt ist widerspruchsvoll: folglich gibt es eine widerspruchslose Welt; - diese Welt ist werdend: folglich gibt es eine seiende Welt; - lauter falsche Schlüsse: (blindes Vertrauen in die Vernunft: wenn A ist, so muß auch sein Gegensatzbegriff B sein)."
  Es ist nicht zu leugnen, daß in der Aufklärungsphilosophie ein tragischer Zug steckt. Sie zertrümmert die alten Begriffsgebäude, aber indem sie ein neues errichtet, legt sie schon den Grund zu einem neuen Mißbrauch. Denn es gibt keine Theorie ohne Hilfsbegriffe und jeder Hilfsbegriff wird notwendig mit der Zeit mißbraucht. Der Fortschritt der Wissenschaft spielt sich in ewigem Ringen ab; die schöpferischen Kräfte müssen mit Notwendigkeit auch verderbliche Keime schaffen und die Aufklärung zertrümmert in dem Bewußtsein, selbst zur Zertrümmerung bestimmt zu sein. Und doch ist es dieser rastlose Geist der Aufklärung, der die Wissenschaft vor Verknöcherung in einer neuen Scholastik schützt. Wenn die Physik eine Kirche werden soll, ruft Mach aus, so will ich lieber kein Physiker heißen. Und in
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 1) l. c. Nr. 291.
 2) l. c. Nr. 287.

paradoxer Zuspitzung vertritt Nietzsche 1) die Sache der Aufklärung gegen die selbstzufriedenen Besitzer einer dauernden Wahrheit: "Die Behauptung, daß die Wahrheit da sei, und daß es ein Ende habe mit der Unwissenheit und dem Irrtum, ist eine der größten Verführungen, die es gibt. Gesetzt, sie wird geglaubt, so ist damit der Wille zur Prüfung, Forschung, Vorsicht, Versuchung lahmgelegt: er kann selbst als frevelhaft, nämlich als Zweifel an der Wahrheit gelten.... Die 'Wahrheit' ist folglich verhängnisvoller als der Irrtum und die Unwissenheit, weil sie die Kräfte unterbindet, mit denen an Aufklärung und Erkenntnis gearbeitet wird."
  Von diesen Kräften aber war um die Jahrhundertwende Mach eine der gewaltigsten. 
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Periodische Erscheinungen
beim Blühen tropischer Gewächse.
Prof. Dr. F. A. F. C. Went, Utrecht.
  Wenn im Frühling unsere Obstbäume mit ihren Blüten prangen, hat wohl mancher sich abgefragt, woher diese Pracht zu ganz bestimmter Zeit? Jedermann weiß ja, daß man die verschiedenen Bäume und Sträucher zu ihrer Zeit blühend finden kann, zuerst den Haselstrauch, später die Weiden, die Ulmen und so in ununterbrochener Folge, bis die Linden unter unsern einheimischen Bäumen die Reihe schließen. Die Lehre der Phänologie gründet ihre Rechte ja eben auf diese wohlbekannten Tatsachen. Es war auch selbstverständlich, daß man schon seit alten Zeiten diese fest bestimmte Blütezeit durch unser periodisch wechselndes Klima zu erklären suchte. Dabei wurde in erster Instanz an die Temperatur gedacht und es wurden selbst sogenannte Temperatursummen bestimmt, welche für das Aufblühen der verschiedenen Bäume charakteristisch sein würden.
  Schon Sachs hat auf das Absurde dieser Bemühungen hingewiesen, und eigentlich verurteilt diese ganze Methode sich selbst, indem es sich herausgestellt hat, daß für das Aufblühen nicht die Temperatur allein bestimmend ist. Bekanntlich kann man ja allerlei Zweige, wenn man sie im Februar oder März ins Gewächshaus bringt, durch die höhere Temperatur zum Blühen bringen, während dies nicht gelingt, wenn man dieselbe Manipulation im November oder Dezember ausführt. Ebenfalls ist bekannt, daß man auf diese Ruheperiode Einfluß ausüben kann durch verschiedene Verfahren, z. B. durch Äther (Johannsen) oder durch warmes Wasser (Molisch) usw. Das Frühtreiben des Flieders beruht ja auf dieser Behandlungsweise. 
  Es fragte sich nun, ob die Periodizität des Blühens unserer Bäume ausschließlich erklärt werden konnte durch unser periodisches Klima. 
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 1) l. c. Nr. 252.