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Sitzungsberichte der naturwissenschaftlichen Gesellschaft Isis in Dresden, 1916, S 13 - 15.
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Geh. Hofrat Prof. Dr. G. Helm spricht über den Sammelbegriff als Grundlage der Wahrscheinlichkeitslehre.
Der Vortragende beginnt mit einem Rückblick auf die Ausführungen, die er 1899 in einer Hauptversammlung der Isis über statistische Beobachtungen biologischer Erscheinungen vorgetragen hat, und erinnert daran, wie damals Geh. Rat Treu eine Reihe schöner Projektionen von Typenbildern des menschlichen Antlitzes vorführte und deren Bedeutung für die Theorie des ästhetischen Urteils und der künstlerischen Phantasie hervorhob. (Isis Sitzungsber. 1899, S. 11f.)
Der von Fechner in die Wissenschaft eingeführte Kollektivgegenstand hat in Statistik, Biologie und Physik eine so beherrschende Stellung erlangt, daß eine rein formale, mathematische Analyse des Sammelbegriffs geboten erscheint, wie sie streng arithmetisch durch die Sätze von Tschebyscheff und Matkoff angebahnt wird und wie sie rein analytisch Bruns 1906 in seiner Wahrscheinlichkeitsrechnung und Kollektivmaßlehre durchgeführt hat. Der Vortragende vertritt die Anschauung, daß Kollektivtheorie und Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht mehr nebeneinander stehen sollten, sondern Wahrscheinlichkeit nichts anderes ist, als eine aus dem Sammelbegriff folgende Zahl, so daß der Wahrscheinlichkeitsbegriff schlechthin keine Verwendung hat außer dieser auf den Sammelbegriff gegründeten. Die Häufigkeit, in der eine Größenstufe der im Sammelbegriff vereinigten Einzelgegenstände sich vorfindet, ist die beobachtete Wahrscheinlichkeit dieser Größenstufe, und nichts anderes, nichts, was über diese Erfahrung metaphysisch hinausgeht oder auf Verwechselung von Wahrscheinlichkeit und Wahrscheinlichkeit ihres Zutreffens beruht, darf im Wahrscheinlichkeitsbegriff gedacht werden. Bei dieser Auffassung stellt sich die Reihenfolge der a priori- und a posteriori - Wahrscheinlichkeiten vollständig um, die letzteren sind die uns unmittelbar gegebenen, die ersteren, durch logische Konstruktionen, z. B. durch Spielregeln, festgestellten, bedürfen vor ihrem mathematischen Gebrauch des Nachweises, daß ihnen ein Sammelbegriff zu Grunde liegt, der sie erst der Messung zuführt. 
Dieser logisch konstruierte Sammelbegriff erledigt dann die Forderung aller der zahlreichen Kritiker des alten Wahrscheinlichkeitsbegriffs nach einer quantitativen Bemessung des disjunktiven Urteils, einer Abzählung der gleichmöglichen Fülle, einer Messung der Spielräume u. dergl. Immer erschien ja der bisherigen, auf Glücksspiel und Wette gegründeten Wahrscheinlichkeitslehre eine Aufgabe mathematisch erfaßbar, sobald sie auf das Urnenschema zurückgeführt, auf dieses abgebildet war, d. h. aber auf den Bernoullischen Sammelbegriff der Glieder einer Binomialentwicklung. Daß die bis an die letzten Fragen menschlichen Erkennens vorgetriebenen Untersuchungen der Wahrscheinlichkeitslehre im Grunde auf den an fast läppischen Spielen gewonnenen Anschauungen beruhen, ist nun nicht mehr befremdend. Der Sammelbegriff aller Ziehungen aus einer Urne von bestimmter Beschickung mit Kugeln ist vielmehr nur ein, der Anschauung bequem zugängliches Beispiel des Sammelbegriffs überhaupt, der zweifellos in den tiefsten Wurzeln des menschlichen Denkens verankert ist. Das Spiel besteht vor allem deswegen die Erfahrungsproben der auf seine Spielregeln aufgebauten Schlüsse, weil die Spieler selbst eifersüchtig die strenge Einhaltung der Regeln bei jeder praktischen Ausführung überwachen. Daß man von Einzelspiel, bevor es gespielt ist, nichts aussagen kann, darin spricht sich die wesentliche Eigenschaft des Spiels aus, Kollektivgegenstand zu sein: von einem Exemplar eines Kollektivbegriffs weiß man schlechterdings nichts, als daß es eben eins von allen im Begriffe zusammengefaßten ist. Diese Auffassung sowie die Ableitung der Wahrscheinlichkeitslehrsätze aus dem Sammelbegriff hat der Vortragende 1902 in den Ann. d. Naturphilosophie entwickelt. 
Die Bayessche Regel, mit der in der alten Wahrscheinlichkeitslehre die Gesamtheit aller Urnen, die eine bestimmte Kugelziehung ermöglichen, auf die Gesamtheit aller Ziehungen aus einer Urne bezogen wird, ergibt sich aus der vorgetragenen Auffassung unmittelbar.
Bernoulli zeigte, daß sich sein Kollektivgegenstand durch die Krampsche Transzendente in genügender Annäherung darstellen läßt. Unter dem Einfluß dieser analytischen Darstellung ist wohl der Gaußsche Kollektivbegriff, die Gesamtheit aller Messungen einer Größe, entstanden, aber streng zu begründen ist er selbstverständlich nur durch die Erfahrung. Die Erfahrung ergibt, daß beispielsweise die Länge eines Stabes nicht ein Individuum ist, sondern ein Sammelbegriff. Mag man einen ausgezeichneten Wert, etwa den durchschnittlichen Wert aller Messungen, als Länge des Stabes bezeichnen, bevorzugen, die Erfahrung lehrt, und die kinetische Atomistik begründet es zum Ueberfluß, daß die weiteren tatsächlichen Messungen um diesen ausgezeichneten