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Wiener Neuigkeiten.

Ernst Mach gestorben. 

Prof. Ernst Mach ist am vorigen Samstag in der Nähe von München, wo er bei seinem Sohne weilte, gestorben.
Ernst Mach war am 18. Februar 1838 in Turas in Mähren geboren. Er habilitierte sich 1861 zunächst als Dozent für Mathematik an der Wiener Technik, wurde sodann 1864 als ordentlicher Professor an die Universität Graz berufen, wo er mit der Veröffentlichung seiner erkenntnistheoretischen Schriften begann. Nach einer längeren Wirksamkeit in Prag übersiedelte Mach 1894 nach Wien, wo er kaum drei Jahre wirkte. Im Jahre 1913 übersiedelte Mach nach München. Mach, der Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Ehrungen war, gehörte seit 1901 dem Herrenhaus an.

[[written in pencil]] Zeit. Abendblatt v. 22. II. 1916 [[written in pencil]]

Ernst Mach.

Im öffentlichen Leben Wiens - wenn man von einem solchen sprechen kann - stand an einer hervorragenden Stelle Ernst Mach. Er war hoch geachtet als Gelehrter, als stiller, aber wertvoller Vorkämpfer für die individuelle Freiheit, als Weltweiser. Noch größer aber ist die Zahl seiner Bewunderer im Ausland.
Als Mach vor einigen jahren Oesterreich verließ, um seine Tage in Haar bei München zu beschließen, wo der hochbetagte, halbgelähmte, aber immer noch schaffensfreudige Gelehrte im Hause seines Sohnes ein Heim fand, nahm man in Wien kaum Notiz davon. Die ärmliche Pension von 8000 Kronen, die er als gewesener Universitätsprofessor bezog, reichte bei der wachsenden Teuerung nicht hin. So bescheiden er lebte, so tief er seine persönlichen Bedürfnisse herabzuschrauben verstand, schließlich ging es nicht mehr. Unserer Unterrichtsverwaltung war es nicht einen Augenblick lang eingefallen, daß unsere Selbstachtung als Kulturnation eine größere Rücksicht erheische gegenüber solchen Männern, die die schöpferischen Genies des Landes vorstellen; ja, seine gelehrten Kollegen aus demselben Wissensgebiet, der Physik, taten immer so, als ob es im Weichbild der Stadt keinen Mach gebe. Er selbst lebte äußerst zurückgezogen, lehnte ängstlich jede Aufforderung zu öffentlichem Hervortreten, jede Ehrung ab. Und als seine Freunde zu seinem siebzigsten Geburtstag eine Festschrift planten, bat er, davon abzusehen.
Und ganz merkwürdig hing seine persönliche Scheu, die so viel edle Bescheidenheit zum Ausdruck bringt, mit seiner Weltanschauung, seinem philosophischen System zusammen. Denn, obwohl er sich wehrte, Philosoph zu heißen, war er doch ein solcher durch und durch bis zur Schaffung einer ganz eigenen, höchst sonderbaren und doch zur Hälfte durchaus richtigen Auffassung von unserem Ich. Eine tiefe Auffassung. Mach las eines Tages, von einem Freunde verführt, folgende humoristische Stelle im Werke des Philosophen E. Krause (wenn keine Verwechslung mit Karl Christian Friedrich Krause, dem komisch-krausen Zeitgenossen Kants vorliegt):
"Aufgabe: Die Selbstanschauung "Ich" auszuführen!
Auflösung: Man führe sie ohne weiteres aus!"
Mach legte sich aufs Sofa, ließ das Auge sinnend über sich gleiten, und besah sich den Inhalt seiner Selbstanschauung. Er beobachtete seine Nasenspitze, darüber hinaus seinen Rock, seine Beine, Füße, alles Teile des "Ich", die ihm zum Bewußtsein kamen als ihm gehörig. Aber wo die Hände und Füße, der Rock und die Hose endeten, war das Bewußtsein keineswegs an seinen Grenzen angekommen. Nein, da knüpfte gleich das Sofa an, Teppich und Wände, Fenster, Wolken, Himmel. Das alles bildete die Fortsetzung seines Körpers, gehörte mit zu seinem Bewußtsein. Und zurück führte der Blick von Himmel und Fenster zu der Nasenspitze, unter die eigene Haut, und schließlich zur Empfindung, daß er, Mach, eben im Anschauen und Denken begriffen war, führte zum eigenen "Ich". Sein geistvoller Freund Josef [[underlined]] Popper-Lynkeus [[/underlined]] traf damals das Richtige, als er ihm lachend bemerkte: "In dem Moment, wo Ihr Blick unter Ihre Haut kam, waren Sie beim "Ich" angelangt." Das bekannte grundlegende Werk: "Analyse der Empfindungen" enthält die Zeichnung des auf dem Sofa liegenden und sein "Ich" entdeckenden Mach. So kam der Forscher zur Ueberzeugung, daß unsere Anschauung von unserem Selbst, unser Selbstbewußtsein eigentlich unser ganzes Weltbild enthält samt Stiefel, Zimmerausstattung und Himmelskunde; daß das "Ich" aber innerhalb dieses Weltbildes nur in einer bescheidenen Ecke stehe, daß es gewissermaßen nur eine Spitze, einen Gipfel bilde. Und Gipfel können weggehauen werden. Tatsächlich geht im Tod das Ich verloren, während das übrige, die der Weltanschauung zum Teil erhalten bleibt und lebendig weiterwirkt, wie in den Werken der Forscher, Künstler, Staatsmänner, Sozialreformer. Ja, das bildet eben deren größtes Glück, daß das bessere Teil ihres Ich, ihr Weltbild den nachkommenden Geschlechtern erhalten bleibt, nachdem die wertlose Spitze, das Ich, längst abgemodert ist. Das Ich verschwindet aber nicht nur auf einmal, am Ende, sondern schon vorher, im Leben verändert es sich unaufhörlich, bröckelt ab, zumeist ohne daß wir es merken. Ganz abgesehen davon, daß es im Schlaf gar oft sich selbst fremd wird. 
Nach dieser Entdeckung stößt Mach triumphierend den Ruf aus, das Losungswort seiner Erkenntnis: "Das Ich ist unrettbar!" Ist es doch gerade diese Einsicht, daß wir am Todestage das Ich endgültig und für immer verlieren, und die Furcht vor dieser Katastrophe, die die meisten Menschen zu dem absonderlichen Aberglauben, zu religiösen und philosophischen Verkehrtheiten treibt. Mach erklärt, daß er auf die individuelle Unsterblichkeit gern verzichtet, da sie ja nebensächlich sei gegenüber dem eigentlich Wertvollen, dem allgemeineren Weltbild, das den größeren Inhalt unseres Selbstbewußtseins ausmacht. Er glaubt, dadurch "zu einer freieren, verklärteren Lebensauffassung zu gelangen, die die Mißachtung des fremden Ich und die Ueberschätzung des eigenen ausschließt" - zu einem Ideal, das gleich weit von der selbstmörderischen Askese wie vom rücksichtslosen Uebermenschentum Nietzsches ist...
Der scharfsinnige Leser erkennt sofort die geniale Einseitigkeit, er sieht den tiefsten Sinn des dunklen Daseins enthüllt, hört aber zugleich das Aufkreischen des Widerspruchs in seiner Brust. Mach ergreift eine Gigantenkeule und schmettert uns alle tot. Nur, um uns zu zeigen, daß das, was dann noch übrig bleibt, das eigentlich Wertvolle ist. Ihm, den Künstlern, den schöpferischen Geistern zum Trotz. Aber den anderen, gewöhnlichen Erdbürgern zum Schmerz. Er vergißt in seinem Eifer, daß, wie er selbst gesteht, das Bewußtsein der schönen Welt im "Ich" gipfelt, daß ein "Ich" da sein muß, um dieses Universum geistig in sich zu fassen, kurz, daß das "Ich" eigentlich der Inbegriff von allem ist, was wir sehen, wovon wir sprechen und denken. Künstler, Forscher, Sozialreformer würden wertlose Hinterlassenschaften fabrizieren, wenn niemand mehr lebte, wenn keine "Ich" da wären, um ihre Werke und Schöpfungen sich zu Nutze zu machen, in ihr "Ich" hinein zu verweben, ihr "Ich" damit zu veredeln.
Daß Mach, der objektive, sich selbst verleugnende Forscher, seine eigene Persönlichkeit in den Hintergrund schob, hängt aber nicht nur mit seiner Bescheidenheit und seiner Philosophie, sondern auch mit seiner angeborenen Güte, die er für Pflichtgefühle hielt, und der Vornehmheit seiner Gesinnnung zusammen. Unzählige Leute, schaffende, hoffende, wendeten sich an ihn, ihre Arbeiten durchzulesen, zu begutachten. Oft jammerte er, daß Unbekannte ihm seine beste Zeit wegnähmen. Aber nie war er imstande, mit Festigkeit abzulehnen.
Man hatte Mach lange totgeschwiegen, im Anfang, als er sich noch nicht zur Anerkennung durchgerungen, oft auch verlacht. Besonders bei uns in Wien, wo er am längsten wirkte. Als sein bedeutendes Werk: "Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit" im Jahre 1872 erschien, gab es auf viele Jahre hinaus fast niemanden, der es ernst nahm. Der ertse, der die Bedeutung dieser Leistung erkannte, war Josef v. Popper-Lynkeus, der selbst ähnliche Ideen ausgesprochen hatte, derselbe Popper, der ebenfalls als einer der ersten für den verkannten und mißhandelten Rober Mayer eintrat. Als Mach sein glänzendes psychologisch-phylosophisches Werk: "Beiträge zur Analyse der Empfindungen" veröffentlichte, belehrte ihn ein Physiker darüber, wie ungeschickt er seine Aufgabe angefaßt habe. Man könne die Empfindungen nicht analysieren, bevor die Bahnen der Atome im Gehirn nicht bekannt seien.
Die reine ergebene Begeisterung für die Wissenschaft hat Mach wahrscheinlich von seinem Vater geerbt. Dieser war ein tief überzeugter Darwinianer gewesen. Als Gutsbesitzer in Krain hatte er sich auch mit der Seidenzucht beschäftigt. Die Seidenraupe des Jama Mai frei im Eichenwalde gezogen, und sich dabei biologische Experimente gestattet, aus denen der Knabe viel Anregung schöpfte. In der väterlichen Bibliothek hatte der erst fünfzehnjährige Ernst ein Buch entdeckt, dessen Lektüre einen gewaltigen und unauslöschlichen Eindruck in ihm zurückließ. Es war Kants "Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik". Er sog sich damit voll. Einige Jahre später, an einem heiteren Sonnentag, als er im Freien spazierte, erschien ihm die Welt samt seinem Ich als eine einzige zusammenhängende Masse von Empfindungen. Dieser Augenblick war für seine ganze künftige Anschauung, für seine spätere Erkenntnislehre bestimmend. Hier empfing er den Keim, aus dem sich etwa ein halbes Jahrhundert später seine "Analyse der Empfindungen" entwickeln sollten. Von dem Leben in der täglichen Sorge um die Verwaltung auf dem väterlichen Gute rührtes es wahrscheinlich auch her, daß Mach später dieselbe Betrachtungsweise auf seinen Beruf übertrug und die Wissenschaften als eine "Denkökonomie" bezeichnete. Sie ersparen uns falsche Anschauungen und überflüssige geistige Arbeit. Die Naturgesetze bilden "die Einschränkung unserer Erwartungen unter Leitung der Erfahrung". In der Periode des Kopernikus und des Galilei erfolgte ein Aufschwung der Naturwissenschaften unter den Leitgedanken der Leichtigkeit, Einfachheit und Schönheit, die in den Gesetzen des Alls walten sollten. Gott oder die Natur strebt zum Einfachsten und Schönsten. Dann folgt die Zeit, wo man Gesetzmäßigkeit und Bestimmtheit als wesentlichstes Kennzeichen der Naturkräfte erklärte. Heute erwartet man von ihnen: "Sparsamkeit und Oekonomie in allen Vorgängen, durch Erzielung aller Wirkungen mit kleinstem Aufwand." Und was man von der Natur erwartet, dessen seien die Wissenschaften der Ausdruck: Denkökonomien.
Machs Schriften über physikalische wie über philosophische Probleme geben den ganzen Mann wieder, sie zeichnen sich durch Schlichtheit und Klarheit aus. Dieses scheint sein einziges Streben; seine viel gelesene "Mechanik in ihrer Entwicklung" erhält dadurch einen gewissen menschlichen und künstlerischen Reiz. Im Gegensatz zu anderen Professoren, die möglichst dunkel und hochtrabend sein wollen, sucht er die "Wunder" der Gelehrtheit gewissermaßen zu entwundern, wodurch natürlich der feinste geistige Effekt entsteht. In seinen in vierter Auflage erschienenen "Populärwissenschaftlichen Vorlesungen" hat er in seiner bescheidenen Art in einzelenen Abhandlungen tiefe und wertvolle Gedanken niedergelegt, um deren jeden einzelnen andere dicke Bücher herumgeschrieben hätten. Sein letztes größeres Werk war der Band: "Erkenntnis und Irrtum".

Leo Gilbert.